DDR 1982: In einem Jahr habe ich Jugendweihe. Ich bin ein dürrer, schlaksiger 13-Jähriger, der sich zum zweiten Mal auf einen Urlaub mit Eltern und Schwester freut. Wir sind keine durchschnittliche Familie. Wir müssen nicht jahrelang auf einen Urlaubsplatz warten und uns in FDGB-Heimen um das schmale Buffet prügeln. Mein Vater ist Schriftsteller. Wir machen First-Class-Urlaube in ZENTRAG-Heimen. Für die Künstler nur das Beste. So war sie auch: die DDR. Hier lieferten Barkas-Kleintransporter das, was man sonst nur gegen Beziehungen oder gar nicht bekam: Bananen, Orangen, Weintrauben, gute Schokolade. Petzow war das Paradies.

Wie verwöhnte man uns. Im Keller der ZENTRAG-Villa gab es für uns Backfische Disko. Unsere „Bediensteten“ brachten uns Eisbecher mit Südfrüchten. Die wunderbaren Mädchen, mit denen ich tanzte, waren nicht importiert, trugen jedoch Levis-Jeans. Jeder Tag war Faszinosum, Abenteuer. Mein Vater und ich angelten, fuhren Boot. Ich liebte es, meine Mutter auf dem See hin und her zu schippern, die kleinen Dschungelecken zu finden, wo man sich wie in den Tropen fühlte. Und wenn man müde und glücklich zu Abend aß, dann gab es richtigen rohen Schinken, jeden Abend. Nicht das übliche Zeug mit dem dunkelweißen Speck am Rand, den ich verschmähte. Nein, es waren große, rote köstliche Scheiben. Ich aß fast ausschließlich Schinken in diesen beiden Wochen, im Juli 1982.

Die Villa bevölkerten berühmte Leute. So auch Ruth Werner  mit ihrem Mann Len Beurton, den ich abends in der Badewanne sitzend überraschte. Ich hatte mich in der Tür geirrt, glaube ich. Ich sehe ihn vor mir. Schlank, braungebrannt, die Pfeife im Mund, in der Hand eine Zeitung. Er lächelte mich an und sagte etwas auf englisch zu mir, das ich nicht verstand. Verblüfft fragte ich später meine Mutter, wie eine DDR-Frau zu einem Engländer kommt. Sie erklärte es mir. Was für ein Abenteuer.

Eines Tages fing ich einen Blei, den größten Fisch, der mir bis dahin an den Haken ging. Eine silbern schimmernde Schönheit, über ein Pfund schwer. Ich tötete ihn, entfernte die Schuppen, die Eingeweide und aß ihn zu Abend. Vom Küchenchef mit einer edlen Soße und Salzkartoffeln exklusiv für den kleinen Prinzen zubereitet, der sich fühlte wie ein König. Nicht einmal die vielen Gräten, mit denen der Blei sich wohl an mir rächen wollte, schmälerten den Genuss. Was wohl auch an der brünetten 14-Jährigen mit den Birnenbrüsten lag, die am Tisch gegenüber saß. Jaqueline hieß sie, glaube ich. Was für ein Abenteuer. Sie trug nur ein Hemdchen über der perfekt sitzenden Levis. Ihre Augen waren von der dunklen Farbe des Sees, in dem ich fischte...unergründlich und voller Reichtümer, damals in Petzow, im Juli 1982.

 

 

Thomas Schütt (*1968) lebt und arbeitet in Hamburg